Neurowissenschaften, Ethik & Recht

Humanitäre, gewaltreduzierte Unterbringung zu teuer für Baden-Württemberg

Baden Württemberg hat eine Gesetzesänderung des Unterbringungsgesetzes verabschiedet, die Zwangsbehandlungen wieder erlauben soll. Behandlungen unter dem alten UBG waren vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt worden.

Den Gesetzesentwurf gibt es hier.

Interessant und auch etwas erschreckend ist v.a. die Gesetzesbegründung.

Hintergrund: Das BVerfG hatte in den beiden Entscheidungen zu Zwangsbehandlungen festgestellt, dass sie nicht zum Schutz Dritter, sondern nur zum Schutz bzw. zur Förderung des Wohls des Betroffenen zulässig sind: “Als rechtfertigender Belang kommt insoweit allerdings nicht der gebotene Schutz Dritter vor den Straftaten in Betracht, die der Untergebrachte im Fall seiner Entlassung begehen könnte. Dieser Schutz kann auch dadurch gewährleistet werden, dass der Untergebrachte unbehandelt im Maßregelvollzug verbleibt. Er rechtfertigt daher keinen Behandlungszwang … [D]essen Weigerung, sich behandeln zu lassen, ist nicht der Sicherheit der Allgemeinheit vor schweren Straftaten, sondern seiner Entlassungsperspektive abträglich.” Rn. 46 hier.

“Zur Rechtfertigung des Eingriffs kann aber das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) geeignet sein, sofern der Untergebrachte zur Wahrnehmung dieses Interesses infolge krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit nicht in der Lage ist.” (Rn. 47, aaO).

Ob der letzte Satz in dieser Form ein stimmiges Argument bildet, ob also das Freiheitsinteresse einer Person geeignet sein kann, Grundrechtseingriffe gegen sie selbst zu rechtfertigen, ob sich also Grundrechten einfach in Eingriffsrechtfertigungen umdrehen lassen, ist eine Frage, die ich anderswo erörtert habe und die auch gewichtige Stimmen im verfassungsrechtlichen Schrifttum wie etwa die Profs. v. Münch, Hillgruber oder Schwabe kritisch sehen. Jedenfalls ist der BVerfG Entscheidung aber wohl zu entnehmen, dass schwere Grundrechtseingriffe wie Zwangsbehandlungen nicht mit Belangen Dritter zu rechtfertigen sind.

Das ist auch unter systematischen Gesichtspunkten sachgerecht. Denn: Eingriffe in den Geist mit psychoaktiven Substanzen zu anderen Zwecken werden in der Regel für absolut unzulässig gehalten. Um ein plastisches Beispiel zu nehmen: Selbst zur Gewinnung der Aussage eines Verdächtigen in einem gewichtigen Fall würde es der Großteil der deutschen Verfassungsrechtler für unzulässig halten, diese durch Gabe einer Plauderdroge herbeizuführen. So § 136a StPO, der als Ausdruck der Menschenwürde gilt, und dessen Wertung (von Ausnahmefällen wie ticking-bomb Szenarien einmal abgesehen) unbestritten geteilt wird. Was besagt das? Nun, dass Eingriffe in den Geist von Personen, die ihren Willen untergraben, ihre Gedanken manipulieren oder ihre Stimmungen verändern, dem Staat eigentlich grundsätzlich verwehrt sind, und zwar auch bei der Verfolgung hochrangiger Ziele.

Zwangsbehandlungen mit Psychopharmaka stellen nun einen wesentlich intensiveren Grundrechtseingriff als die Gabe einer Plauderdroge dar – zeitlich, psychisch, toxisch. Ziel ist ja nicht nur eine kurzzeitige  Stimmungsänderung, sondern eine möglichst langwierige Veränderung der mentalen Beschaffenheit. Und die langfristigen Nebenwirkungen insb. von Neuroleptika werden in der Fachwelt ja gerade ausgiebig diskutiert. Führt man sich diese Wertungsunterschiede vor Augen, wird deutlich, dass Zwangsbehandlungen– so ja auch das BVerfG – Kernbereiche der Persönlichkeit berühren und wenn überhaupt nur unter exzeptionellen Umständen zu rechtfertigen sind. Und zwar: ausschließlich zum Wohl des Patienten. So wird man die Entscheidung des BVerfG interpretieren dürfen und müssen.

Schauen wir nun in die Gesetzesbegründung zu § 8 BW-UBG. Sie beginnt wie folgt:

„Würde die Zwangsmedikation nicht geregelt, würden neben den zu erwartenden Nachteilen für die Patienten zusätzliche Kosten durch einen erheblich höheren Personalbedarf in den Einrichtungen entstehen.

Auswirkungen auf die übrige Gesellschaft, insbesondere finanzieller Art, wären bei einer Nichtregelung zu erwarten, wenn es beim derzeitigen Status Quo … bliebe. Dies hätte einen Anstieg nicht behandelbarer … Patienten zur Folge. In diesem Fall wären steigende Personalkosten zu erwarten… Wegen der erwarteten vermehrten Übergriffe von nicht behandelten Patienten auf Personal wäre mit erhöhten Ausfallzeiten beim Personal zu rechnen. Dies könnte auch die Personalgewinnung erheblich erschweren. Hinzukommt, dass bei Patienten, die nicht behandelt werden könnten und dürften, die Krankenkassen möglicherweise die Kosten nicht übernehmen und diese dann vom Land getragen werden müssten. Unabhängig davon besteht die Gefahr, dass Patienten mit paranoiden Zustandsbildern erhöht fremdagressiv reagieren…“

Die ohne Behandlungsgrundlage entstehenden Kosten werden auf rund 20 Millionen € geschätzt.

Man sieht, mit wie viel Feingefühl der Gesetzgeber hier um das Wohl der Patienten besorgt ist. Offensichtlich hat er, den Vorgaben des BVerfG und den Geboten der Verfassung folgend, allein ihr Wohl bei der Neuregelung im Blick. Außer ein paar Phrasen zur Selbstbestimmung findet sich zu den Bedürfnissen und Rechten von psychisch Kranken nichts. Sie werden allein als dunkle und kostenträchtige Gefahr dargestellt.

Die Gesetzesbegründung ist aber nicht nur politisch unsensibel, sondern auch unter juristischen Prinzipien zweifelhaft.

1. Gefahr für Dritte

Selbstverständlich und auch ohne Neuregelung ist bei Gefahr für Dritte der Einsatz von Zwangsmaßnahmen durch Ordnungsbehörden, Anstaltspersonal usw. zulässig.  Diese Fallgruppe eignet sich zur Begründung von langandauernden Zwangsbehandlungen überhaupt nicht.

2. Latente Gefährlichkeit psychisch Kranker?

Es sei denn, mit der Gefahr für Dritte sind keine akuten Gefahrensituationen gemeint, sondern rein abstrakt-generelle, die von den SOGs nicht erfasst werden. Dies klingt in der Gesetzesbegründung an. Dann aber wird eine Patientenpopulation  unter den Generalverdacht der Gefährlichkeit gestellt – das ist schon empirisch fraglich. [Nun handelt es sich natürlich um Personen, die untergebracht sind, und eine Voraussetzung der Unterbringung ist die Gefahr für selbst oder andere (§ 1 UBG-BW), oder eben Unterbringung im Maßregelvollzug]. Selbst wenn das richtig wäre und diese Gruppe vermehrt Delikte begehen würde: darf man deswegen alle Patienten auch außerhalb konkreter Gefahrensituationen zwangsbehandeln? Ein präventives Vorgehen gegen eine grob zusammenkategorisierte Patientengruppe durch eine der intensivsten Grundrechtseingriffe – direkte Gehirninterventionen? Überspitzt: Würden wir solche präventiven Maßnahmen gegen die überdurchschnittlich viele Delikte begehende abstrakte Gruppe betrunkener (und einsichtsunfähiger) Weinfestbesucher gutheißen? Die normalen Zurechnungskriterien tragen eine derart weite Gefahrenprognose samt der Zulässigkeit drastischer Mittel zu ihrer Abwendung nicht. Hier werden neue Maßstäbe in Punkto präventiver Sicherheitspolitik aufgestellt.

3. Kosten: der Preis der geistigen Unversehrtheit

Im Mittelpunkt der Begründung stehen die Kosten, die entstehen würden, wenn Patienten nicht zwangsbehandelt sondern stattdessen durch Fachpersonal betreut würden. Diese Kosten für eine humanitäre Psychiatrie ist das Land offensichtlich nicht zu tragen bereit, und man versucht auch gar nicht erst, den Anschein derartiger Bemühungen aufkommen zu lassen.

Hier liegt m.E. eine der Kernfragen, die der derzeitige Behandlungsstopp aufwirft. Denn: viele Psychiater räumen ein, dass es derzeit durchaus gelingt, Problemfälle auch ohne Zwangsbehandlungen zu lösen (sicher verbleibt ein schwieriger Rest). Als Beispiel sei der Brief von Herrn Zinkler, Chefarzt der Psychiatrie in Ulm, an das Bundesjustizministerium erwähnt. Durch den Behandlungsstopp sind die Kliniken gefordert, alternative Umgangsformen zu finden, die natürlich hohen Personaleinsatz erfordern. Dennoch scheint eine Lehre aus dem gegenwärtigen Zustand zu sein, dass sich Zahl der Zwangsbehandlungen unter anderen Umständen deutlich reduzieren ließe.

Wenn dem so ist – das müsste empirisch untersucht werden – stellt sich also unmittelbar die Frage, welchen Preis die Gesellschaft zur Vermeidung von Zwangseingriffen zu zahlen bereit ist. Nun mag das so klingen, als sei dies bloß eine Frage der Generosität gegenüber psychisch Kranken, die man in einigen Bundesländern eben nicht aufbringt. Aber es ist mehr: Es geht um die Vermeidung intensiver Grundrechtseingriffe. Der Staat bringt diese Personen ja schon gegen ihren Willen unter, entzieht ihnen also die Freiheit. Nun soll ein zweiter Eingriff hinzukommen, um, so ausdrücklich der Gesetzesentwurf, die Kosten der Unterbringung zu reduzieren. Allerdings darf der Staat Grundrechtseingriffe nur dann vornehmen, wenn keine gleich geeigneten, milderen Mittel zur Verfügung stehen. Eben diese, das legt die gegenwärtige Situation nahe, scheint es für viele Fälle zu geben, z.B. das betreute Durchleben von Psychosen, etc. Dann aber wäre – gerade bei Eingriffen, die Menschenwürdeverletzungen zumindest nahe kommen – aber wohl geboten, diese Möglichkeiten zuerst auszuschöpfen und Zwangsbehandlungen auf den Kreis der Patienten zu beschränken, die auch auf sanftem Wege nicht behandelt oder zur Zustimmung bewogen werden können. Der Gesetzgeber in BW sieht das freilich anders. Unter dem Punkt „Alternativen“ zur Neuregelung stellt er in der bei Gesetzesentwürfen üblichen Phantasielosigkeit fest: „Keine“. Und das Problem ist, dass diese (vermeintliche) Alternativlosigkeit dann, wenn  Zwangsbehandlungen wieder erlaubt sind, auch den alltäglichen Umgang mit Betroffenen prägen dürfte.

Über Zwangsbehandlungen mag man ja trefflich streiten, vielleicht wird es nie ganz ohne sie gehen. Aber eine derartige Gesetzesbegründung, die nur auf die Kosten des Landes blickt, wo ihr aufgetragen wurde, das Wohl des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen, ist fast schon beschämend.

  • Super !!

    Gruß

    Johannes Georg Bischoff

  • Den Artikel finde ich Klasse.
    Den Richtervorbehalt kann man sich in die Haare. klatschen. Richter sind korrupt. Das Gesundheitsamt bestätigt nur falsche Diagnosen. Wer einmal ungerechtfertigt in der Psychiatrie war und die Grausamkeiten komplett mitgemacht hat, den schüttelt es bei der Gesetzgebung.

  • Den Artikel finde ich sehr empfehlenswert – nur eine kleine Ungenauigkeit in der ersten Zeile könnte noch geklärt werden: Am 18. Dezember hat das Kabinett in Stuttgart den Gesetzesentwurf verabschiedet. Bis zum 31. Januar haben verschiedene Verbände noch die Möglichkeit der Stellungnahme. Erst danach wird der Gesetzesentwurf dem Landtag zur Abstimmung vorgelegt…

  • Nun, werte Frau Sckaer, Ihren Kommentar kann ich nicht ganz unkommentiert stehen lassen. Die allermeisten Richter sind natürlich nicht korrupt, sondern, auch im Betreuungswesen, letzlich um das Wohl des Patienten bemüht. Sie haben gewiss eine andere Perspektive auf das Problem als Betroffene, aber das ist kein Zeichen moralischer Verfehlung sondern vielmehr der Versuch mit den Schwierigkeiten psychischer Krankheit umzugehen. Sie können die Gesetzgebung kritisieren, und ungerechtfertigt in der Psychiatrie zu landen, wie Sie sagen, ist mit Sicherheit grausam. Aber Bösartigkeiten auf Seiten der Richter dürfte das Wesen des Problems nicht richtig erfassen.

  • Sehr schön!!!!!!!!!!!!!! Bravo!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
    Wir sind zur Zeit damit beschäftigt eine gewaltfreie Alternative in Rheinland- Pfalz zu schaffen(Weglaufhaus Pfalz GmbH. Mal sehen was die Kostenträger dazu sagen. Natürlich braucht man für eine vernünftige Arbeit auch genügend und gut motiviertes Personal. Das kostet Geld, was aber ohne Zweifel bestens investiert ist. Es ist ein Unding zu glauben per Gewalt Patienten erfolgreich behandeln zu können. Einer der Gründe der “Drehtürpsychiatrie”, die so nebenbei eine Menge Geld kostet.
    Es wird aller höchste Zeit hier umzudenken.

  • Die Begründung für den Gesetzesentwurf lässt die Katze aus dem Sack: es wird zu teuer, und es wird nicht mehr so bequem sein wie derzeit, wo die Neuroleptika ganz eindeutig auch im Interesse der Gefühle der Behandler gegeben werden.

    Das Problem ist aber, dass die Reduzierung der Angst des Personals vor aggressiven Handlungen, die bei einer seelischen Erkrankung natürlich nicht ausgeschlossen sind, wie sonst ja auch nicht, sowohl den “Faulen” zugute kommt, als auch tatsächlich einen persönlichen Umgang erst möglich macht. Die gewaltige Propaganda für den Nutzen der Neuroleptika verwandelt sich bei Wegfall der Zwangsmedikation in eine ebenso gewaltige Angst vor Patienten. Der Popanz, der aufgebaut worden ist zur Rechtfertigung, bedroht jetzt das ärztliche und pflegerische Personal. Das ist eine schlimme Situation, und vergleichbar mit der früheren Furcht vor den Franzosen und der heute noch virulenten Furcht vor den Russen, obwohl andere Nationen ja auch schon ihre Fähigkeiten im Begehen von Kriegsverbrechen gezeigt haben, etwa die Japaner, oder die USA.

    Der Psychiatrie ist es gelungen, die Ablehnung der eher als unzulänglich angesehenen früheren Behandlungsmethoden wie Insulin”kur” oder Elektroschock erfolgreich umzumünzen in eine immer breitere Zustimmung zu den scheinbar wundersam die Heilung begünstigenden Medikamente, deren schwere Nebenwirkungen konsequent verleugnet werden, sowohl generell, als auch im Einzelfall. Das war anfangs der Neuroleptikaära noch anders, aber heute ist sich der mainstream sicher. Nur allgemein wird eingeräumt, auf Konferenzen, dass es auch bedenkliche Aspekte gäbe. Aber in der Praxis wird ganz anders argumentiert. Todesfälle haben nie mit Herzrhythmusstörungen zu tun, eine gewaltige Adipositas ist der Panzer, den der Patient gerade braucht, Spätdyskinesien sind möglicherweise Folgen der Grundkrankheit, Zahnfleischschäden Folge mangelnder Hygiene, die atypischen Neuroleptika haben so gut wie keine Nebenwirkungen.
    Dramatisch wird es, wenn die prompte Verschlechterung des Zustands nach Absetzen als Bestätigung gewertet wird für die Nützlichkeit der Medikation, obwohl die Vergleichbarkeit mit chronischem Alkoholmißbrauch ja auf der Hand liegt. Selbst notwendige Dosissteigerungen sprechen für die Nützlichkeit der Medikamente. Lange Zeit wurden die im Kernspin sichtbaren Hirnsubstanzverluste einfach als Folge der schizophrenen Erkrankung gedeutet, erst in allerjüngster Zeit geht das nicht mehr so recht. Wenn man bedenkt, was in Alters- und Pflegeheimen alles gegeben wird, und jetzt zunehmend im Kindesalter, und die mögliche Steigerung durch das Psychosefrüherkennungsprogramm der Kreuzritter wider den erkrankten Geist, die ja unisono das Lied der Pharmaindustrie singen, kann einem schlecht werden. Die krude Theorie, wonach das stoffwechselgestörte Gehirn des Patienten diesem bei der möglichen Gesundung nicht helfen könnte, ohne Medikamente, hat diesen fortgesetzten vorsätzlichen schädigenden Eingriff in das Gehirn und anderswo erst erlaubt, dann trotz der Nebenwirkungen für unverzichtbar, also entschuldigt gehalten. Und jetzt kommt man daher und sagt, es würde zu viel kosten. Das sollte man mal auf einem anderen Gebiet der Medizin, etwa der Unfallchchirurgie bringen. Dann wäre schnell klar, dass Psychiatrie eben auch eine Polizeifunktion hat, das was stört, effizient wegzusperrren, und wie im Strafvollzug die Wiedereingliederung mehr Alibisprech als Wirklichkeit ist, so ist es auch in der Psychiatrie. Die Verschlechterung der Heilungsaussichten durch die zerstörerisch wirkende Dauermedikation , statistisch belegt, wird in Kauf genommen zugunsten der kostengünstigen Verwahrung, gerne modern modular organisiert, ambulant, stationär, und im Heimpflegebereich. Aber überall gerne kleinschrittig, zittrig, leicht lenkbar, und mit der Einsicht, dass man jeden Tag seine Medikamente nehmen muss.

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